S-Form der Wirbelsäule

In der Schule, ja sogar an der Universität wurde uns im Bezug auf die S-Form der Wirbelsäule eine Erklärung angeboten, die einmal Einzug in die Lehrbücher gefunden hat und seither immer wieder erzählt wird, obwohl sie völlig falsch ist, wie wir gleich sehen werden.

Diese Erklärung lautet folgendermaßen:

"Durch die S-Form der Wirbelsäule werden Stöße besser gedämpft."

Begründet wurde das mit folgender Analogie:

<<Wenn man ein Tamburin (ein Holzkreis, bespannt mit Trommelfell) mit dem Trommelfell auf die Spitze eines geraden Stabes legt, reißt das Trommelfell. Biegt man den Stab S-förmig, so reißt das Fell nicht.>>

Sind Sie mitgekommen? Tamburin --> Kopf? Stab --> Wirbelsäule? Wenn Sie jetzt einwenden, dass der Kopf weder mit seinem Dach (der Oberseite) noch mit einem Fell an der Wirbelsäule befestigt ist, haben Sie völlig recht.

Es ist sogar noch viel schlimmer: Die Erklärung hält einer Überprüfung nicht stand. Wenn Sie nämlich mal versuchen, mit durchgedrückten Beinen auch nur von einer wenigen Zentimeter hohen Stufe zu springen, werden Sie sich ein ordentliches Kopfweh holen. Denn die Wirbelsäule fängt fast nichts ab! (Diesen Versuch haben wir übrigens schon in der Grundschule ausprobiert.)

Wo liegt also der Fehler? Und wozu ist die S-Form der Wirbelsäule wirklich gut? Das wollen wir im Folgenden analysieren.

Zunächst zum Tamburin:

 Nehmen wir ein Tamburin mit der Masse 200g und einem Fell, das sich praktisch nicht dehnt. Dazu einen Stab mit punktförmigem Radius, also bspw. 1mm Durchmesser. Legen wir dieses Tamburin mit der Mitte seines Fells auf die Spitze des Stabes, so wirkt an der Auflagestelle eine Kraft von 200gxG (Masse mal Erdbeschleunigung) auf die Stabspitze (und auf die Fell-Auflagefläche). Nach der Formel "Druck = Kraft pro Fläche" ergibt das einen Druck von



Nehmen wir statt eines Stabes von 1mm Durchmesser eine Stab von 1cm Durchmesser, so ergibt sich ein Druck von


Das heißt, hier ist der Druck schon um den Faktor 100 kleiner. Bei einer Vergrößerung des Durchmessers des Stabes um den Faktor 10 wird die Auflagefläche um den Faktor 100 vergrößert. Bei 10 cm Durchmesser haben wir nur noch einen Druck von , also .

Wenn wir die Kraft pro Fläche (den Druck) in einem Diagramm über der jeweiligen Auflagefläche einzeichnen, ergibt sich eine Stufenzeichnung. Knapp außerhalb der Auflagefläche liegt der Druck bei 0, knapp innerhalb der Auflagefläche bei dem jeweiligen Druck. Liegt diese Differenz (der Sprung) über der Reißfestigkeit des Fells, so reißt es. Um die Wahrscheinlichkeit des Reißens zu minimieren können wir also die Auflagefläche erhöhen. Alternativ dazu können wir auch dafür sorgen, dass der Ãœbergang nicht mehr stufenartig erfolgt. Wir runden den Ãœbergang also ab. Da wir jetzt einen gleichmäßigen Verlauf des Ãœbergangs haben, können jetzt auch Drücke ausgehalten werden, die bei einem plötzlichen Ãœbergang schon zum Reißen führen würden.

Das ist der Grund, warum Trommelschlägel rund sind!

Und genau den gleichen Effekt haben wir, wenn wir das Tamburin auf einen stark S-förmig gebogenen Stab legen! Die Auflagefläche wird größer, und der Übergang wird weicher.

Mit der Wirbelsäule und dem Kopf hat das tatsächlich nichts zu tun.

Wozu ist die S-Form der Wirbelsäule dann gut?

Hier spielt die Physik eine Rolle: Wenn Sie Ballett machen oder klettern, dann wissen Sie, dass man am kraftsparendsten arbeitet, wenn sich der Körperschwerpunkt über den Füßen befindet. Um den Körperschwerpunkt zu finden, können Sie die Kombination der Schwerpunkte von Teilbereichen des Körpers betrachten.

Der Kopf hat seinen Schwerpunkt etwa in seiner Mitte, auf jeden Fall aber vor der Aufhängung des Kopfes an der Wirbelsäule. Der Brustkorb hat seinen Schwerpunkt ebenfalls in der Mitte, ebenfalls vor der Wirbelsäule. Wäre die Wirbelsäule ganz gerade, so würde sich der Schwerpunkt vor den Füßen befinden. Die S-Form sorgt dafür, dass sich der Körperschwerpunkt über den Füßen befindet. So ist die Kraft, die zur Stabilisierung benötigt wird, minimal.

Am 11.02.2007 von Diethelm Schneider verfasst.