"Wenn Molche und Hasen Bagger stoppen"

Heute wollen wir uns wieder mal einen Zeitungsartikel zu Gemüte führen und anschließend analysieren.

Zunächst der eigentliche Artikel:

Wenn Molche und Hasen Bagger stoppen

Europa Auf Drängen der Bundesregierung will Brüssel die umstrittene Naturschutz-Richtlinie Fauna-Flora-Habitat lockern. Unterstützung kommt aus Frankreich und Österreich, wo große Bauprojekte auf Eis liegen

Von unserem Korrespondenten
Detlef Drewes

Brüssel. Die strikten europäischen Regelungen zum Naturschutz kommen erneut auf den Prüfstand und sollen gelockert werden. Nur ein gutes Jahr nach Inkrafttreten der Fauna-Flora-Habitat- (FFH) und der Vogelschutzrichtlinie Anfang 2006 hat Brüssel dem Drängen der Bundesregierung nachgegeben und zugesagt, die von vielen als zu starr und zu unbürokratisch empfundenen Regelwerke zu überarbeiten.
Das Ziel: Der Naturschutz soll nicht länger wichtige Bauvorhaben blockieren.

Einige Beispiele: In Nordrhein-Westfalen blockierte der Große Moorbläuling (eine Schmetterlingsart) jahrelang den Ausbau
des Hafens, in Bayern wurde ein Autobahnbau durch ein Schutzgebiet gestoppt, in Brandenburg liegt ein Braunkohlevorkommen brach, in Hessen mussten die Bagger vor Molchen, Hamstern und Käfern kapitulieren.

Schon seit Mitte letzten Jahres laufen die deutschen Ministerpräsidenten Sturm gegen die europäische Richtlinie, die zur Ausweisung von unberührbaren Naturschutzgebieten zwingt.
Hessens Regierungschef Roland Koch: "Die rigiden Vorschriften kann kein Industrieland der Welt durchhalten." Sein Europaminister Volker Hoff (CDU) legt noch nach: "Es darf nicht sein, dass Molch, Hamster, Käfer & Co. von Umweltschützern instrumentalisiert werden, um wichtige Bauvorhaben zu verzögern."

In den Briefen an Bundeskanzlerin Merkel drängten alle Länderchefs einstimmig darauf, die Reform in den ersten sechs Monaten des Jahres 2007 anzugehen, da Deutschland dann als EU-Vorsitzender dazu alle Möglichkeiten habe. Doch die Regierungschefin lehnte erst ab, schrieb dann aber doch an EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso, der zusicherte, man werde im Rahmen einer ohnehin geplanten ersten Bestandsaufnahme Ende diesen Jahres prüfen, wie sich die FFH-Richtlinie in der Praxis bewährt habe. Wenn alle Probleme aufgelistet würden, sei es leichter, den Naturschutz gleich mit zurückzufahren.

Merkel selbst ist über diese Wartezeit gar nicht unglücklich, fürchtet die Kanzlerin doch, in eine Zwickmühle zu geraten. Schließlich hatte sie selbst die Vorarbeiten für die umstrittene Richtlinie zwischen 1994 und 1998 mitgetragen - als damalige Bundesumweltministerin.

Mit dem Umbau der Richtlinie soll, so der CDU-Europa-Politiker Karlheinz Florenz, "der Naturschutz keineswegs ausgehöhlt oder abgeschafft werden", man wolle lediglich erreichen, dass die Umsetzung für Kommunen und Unternehmen leichter werde.
"Warum soll es nicht möglich sein, anstelle eines geschützten Gebietes, durch das eine Straße geführt werden muss, an andere Stelle die entsprechende Flora wieder anzusiedeln?"

Doch darüber lässt Bundesminister Sigmar Gabriel (SPD) nicht mit sich reden. Unterstützung gibt es dennoch. Neben den Deutschen drängen auch die Österrreicher und Franzosen darauf, zu einem "europäischen Naturschutzrecht mit Augenmaß" (Merkel) zurückzukehren. Dort liegen ebenfalls Bauvorhaben in Milliardenhöhe zum Teil seit Jahren brach, weil Fuchs und Has' sich ausgerechnet dort "Gute Nacht" sagen, wo zum Beispiel eine dringend benötigte Entlastungsstraße möglich wäre.

Inzwischen sind auch die Rechtsmittel ausgeschöpft: Nicht nur Berlin, sondern auch Paris und Wien wurden mit Klagen gegen die FFH- und Vogelschutz-Richtlinie von den europäischen Richtern auf höchster Instanz in Luxemburg abgewiesen.

Soweit der Artikel aus dem General-Anzeiger Bonn vom 10. Januar 2007, S. 18.

Als erstes möchte ich dem Autor meinen Dank aussprechen, dass er uns so klar vor Augen geführt hat, was die Absichten und Aktivitäten der Industrie-Lobbyisten sind, und dass die zitierten Politiker sich diesen offenbar vorbehaltlos anschließen. Gegen Ende des Artikels erweckt der Autor allerdings den Eindruck, als hätte auch er sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht.

Nun zur Analyse:

Die von den Lobbyisten übernommene Argumentation tut so, als wäre die FFH-Richtlinie (wie auch überhaupt alle Umweltschutz-Richtlinien) nur dazu erfunden worden, "wichtige" Bauvorhaben zu stoppen.
Das stimmt insofern, als die FFH-Richtlinie bisher das erste Umweltschutzgesetzt ist, das sich bisher nicht durch Klagen einfach aushebeln ließ.

Dabei gehen die Lobbyisten aber immer davon aus, dass ihre Bauvorhaben nicht nur für die eigene Firma, sondern auch für die Allgemeinheit wertvoll ist, und dass Umweltgüter wie Landschaften oder bestimmte Tier- und Pflanzenarten sich beliebig verfrachten lassen. Beides ist falsch.

Beispiele für den Verbrauch von schützenwerten Landschaften für Bauvorhaben, die angeblich "im Interesse der Allgemeinheit" sind, gibt es wie Sand am Meer.
Nehmen wir nur die Bettenburgen, die an ökologisch sensiblen Stränden des Mittelmeeres gebaut wurden. Teilweise wurden sie illegal gebaut, teilweise wurden Schutzgebiete den erwarteten Arbeitsplätzen der Tourismus-Industrie geopfert.
Und das Ende vom Lied? Überall sind die Strände mit Betonburgen zugebaut, daraufhin weichen die Touristenströme auf andere, "unverbaute" Strände in anderen Regionen der Welt aus. Finanziell hatten nur die Baufirmen und anfangs die Hotels was davon. Die jetzt leerstehenden Betonburgen und die ökologischen Folgen der Verbauung der Sandstrände dagegen bleiben wieder an der Allgemeinheit, der ansässigen Bevölkerung kleben.

Weil Industrien, insbesondere große Konzerne immer bestrebt sind, Gewinne zu maximieren, aber Kosten und Risiken auf andere abzuwälzen, muss es politische Vorgaben geben, die ein Ausverkauf des Gemeinwohls verhindern.

Die Umwelt des Menschen besteht eben nicht nur aus Tisch, Bett, Stuhl und Fernseher. Jeder Mensch lebt auch in einer bestimmten Landschaft, und die meisten Menschen haben auch ein unbewusstes Bild einer wünschenswerten Landschaft. Das ist der Grund, warum viele Menschen, die nicht nur für den Kontostand leben, sich für den Erhalt einer lebenswerten Heimat in ihren unterschiedlichen Aspekte einsetzen (Heimatvereine, Naturkundevereine, Naturschutzvereine, ...). Das ist auch der Grund, warum im Tourismus der Trend zu "unberührten Gegenden" nach wie vor ungebrochen ist.

Eine vielgestaltige Natur hat also durchaus einen Wert für die Allgemeinheit.
Und dieser Wert darf nicht einfach dem Profitstreben einzelner oder zahlreicher Firmen geopfert werden. Denn: Der Verbrauch von Landschaft ist ein irreversibler Vorgang.
Damit kommen wir zu der Frage von Karlheinz Florenz: "Warum soll es nicht möglich sein, anstelle eines geschützten Gebietes, durch das eine Straße geführt werden muss, an anderer Stelle die entsprechende Flora wieder anzusiedeln?"
Der Punkt ist folgender:
Eine Blume im Topf oder in Hydrokultur kann ich von einem Ort zum anderen verfrachten, ohne dass das der Blume schaden würde, sofern sie genug Licht und Nährstoffe zur Verfügung hat.
Eine Pflanze oder ein Tier, das irgendwo natürlich vorkommt, kommt dort nicht zufällig vor, sondern weil dort bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, die es zu seinem Vorkommen braucht. Das können sein: andere bestimmte Tiere, bestimmte Pflanzen, ein bestimmter Boden, ein bestimmtes Klima, eine  bestimmte Sonneneinstrahlung, eine bestimmte Nutzung. Vieles davon hängt wechselseitig voneinander ab, dazu kommt die historische Entwicklung der Landschaft und des Bodens. Diese wechselseitigen Zusammenhänge sind zum einen komplex, daher nicht künstlich nachzubauen. Zudem macht oft gerade die einzigartige Zusammenstellung dieser an einem bestimmten Ort vorkommenden Organismen die Einzigartigkeit dieses Ortes aus. Und das lässt sich eben weder wiederholen noch verpflanzen.

Wir halten fest: Die Einzigartigkeit eines Naturraums ist nicht reproduzierbar, und damit weder verfrachtbar noch wiederherstellbar. Das heißt eine Zerstörung eines solchen Naturraumes ist ein irreversibler (nicht umkehrbarer, nicht wieder gut zu machender) Vorgang.

Der suggestive Teil obiger Frage ("... durch das eine Straße geführt werden muss ...") ist von vorneherein falsch. Nicht der Plan war vor dem wertvollen Naturraum da, sondern der wertvolle Naturraum vor der Planung. Und Planungen fallen nicht vom Himmel, sondern sind menschengemacht (ja, wirklich!). Und Planungen sind daher änderbar.

Aus den zahlreichen Fällen, wo wertvolle Naturräume einem angeblichen Allgemeininteresse geopfert wurden, und deren negativen Folgen jetzt die Allgemeinheit zu tragen hat, sollten wir gelernt haben und uns dagegen wehren, wenn uns die Lobbyisten ihre kurzzeitigen Profite als "Interesse der Öffentlichkeit" verkaufen wollen.
Diese Erfahrungen waren auch der Ausgangspunkt für die Aufstellung der FFH-Richtlinie.

Noch ein paar Sätze zum Sinn und Inhalt der FFH-Richtlinie:
Mit der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (92/43/EWG), auch kurz FFH genannt, hat die EU einen Meilenstein in der Entwicklung des Naturschutzrechtes gesetzt. Die Richtlinie hat die Verbindlichkeit eines Gesetzes.
Sie schreibt den Aufbau eines europaweiten ökologischen Verbundnetzes "Natura 2000" fest. Sie geht damit deutlich über die bisherigen bundes- und landesrechtlichen Vorschriften hinaus, was die Sicherung der Lebensgrundlagen der Natur und Landschaft anbelangt.

Der Erhalt vieler Arten ist nicht nur vom Zustand einzelner Lebensräume, sondern auch von deren Dichte in einer Landschaft und der geographischen Lage der Gebiete zueinander abhängig. Um beispielsweise den Austausch von Einzelindividuen und damit den Genaustausch innerhalb der Arten zu gewährleisten und um den Lebensraumbedürfnissen wandernder Tierarten gerecht zu werden (hierzu zählen auch sehr viele unsere heimischen Fließgewässer-Fischarten!!), soll eine Verinselung von Schutzgebieten überwunden werden. Die FFH-Richtlinie zielt daher auf ein Systemvon Schutzgebieten ab, das in seiner Gesamtheit den Fortbestand bzw. die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes der bedrohten Arten und Lebensräume gewährleistet.
Quelle: http://www.ig-dreisam.de/sonstiges/ffh-richtlinie.html

Beim Umweltbundesamt von Österreich findet sich folgendes:

Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie

© Irene Oberleitner
Pannonische Salzsteppe

Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen

 

Wesentliches Ziel der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) ist die Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt. Dieses Ziel soll mit dem Aufbau des europäischen Schutzgebietsnetzes Natura 2000 erreicht werden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Gebiete zu nennen, zu erhalten und zu entwickeln, in denen Arten und Lebensräume von europaweiter Bedeutung vorkommen.


Die Anhänge der FFH-Richtlinie beinhalten:

  • natürliche Lebensräume von gemeinschaftlichem Interesse, für deren Erhaltung besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen - Anhang I
  • Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse, für deren Erhaltung besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen - Anhang II
  • Kriterien zur Auswahl der Gebiete, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung bestimmt und als besondere Schutzgebiete ausgewiesen werden könnten - Anhang III
  • streng zu schützende Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse - Anhang IV
  • Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse, deren Entnahme aus der Natur und deren Nutzung Gegenstand von Verwaltungsmaßnahmen sein können - Anhang V
  • verbotene Methoden und Mittel des Fangs, der Tötung und Beförderung - Anhang VI

Anhang I der FFH-Richtlinie listet 209 natürliche Lebensraumtypen von gemeinschaftlichem Interesse auf. Für die Erhaltung dieser Lebensraumtypen müssen Schutzgebiete ausgewiesen werden.

In Österreich sind 65 Lebensraumtypen des Anhang I der FFH-Richtlinie vertreten.


Übersicht über die Lebensraumgruppen und -typen

LebensraumgruppeLebensraumtypen (Anzahl)
Wälder17
Natürliches und naturnahes Grasland14
Felsige Lebensräume und Höhlen11
Süßwasserlebensräume9
Hoch und Niedermoore8
Heide- und Buschvegetation3
Küstenbereich und halophytische Vegetation1
Dünen im Binnenland1
Hartlaubgebüsche1
Gesamt65

Prioritär in der EU zu schützende Lebensraumtypen, die in Österreich vorkommen, sind beispielsweise:

  • Pannonische Steppen-Trockenrasen auf Löss
  • Lebende Hochmoore
  • Pannonische Binnendünen
  • Pannonische Salzsteppen und Salzwiesen

Anhang II der FFH-Richtlinie listet Tier- und Pflanzenarten auf, für die Schutzgebiete ausgewiesen werden müssen. Die prioritären Tierarten in Österreich sind Braunbär, Sumpfwühlmaus, Moorlaufkäfer, Spanische Flagge, Juchtenkäfer, Alpenbock und Gestreifte Heideschnecke. Die prioritären Pflanzenarten in Österreich sind Steirisches Federgras, Schlitzblättriger Beifuß und Waldsteppen-Beifuß.

Die Arten des Anhang IV sind von gemeinschaftlichem Interesse und streng zu schützen. Diese weitgehend aus der Berner Konvention übernommenen Arten müssen in ein strenges Schutzsystem integriert werden. Im Wesentlichen gelten für diese Arten das Tötungs-, Fang- und Störungsverbot der Berner Konvention. 

Die Arten des Anhang V sind von gemeinschaftlichem Interesse. Es sind jene Tier- und Pflanzenarten, welche nur im Rahmen von Managementmaßnahmen genutzt werden dürfen, sofern es die einzelnen Mitgliedstaaten für erforderlich halten.


Europäisches Schutzgebietsnetz "Natura 2000"

Hauptziel der FFH-Richtlinie ist der Aufbau des europaweiten Schutzgebietsnetzes "Natura 2000". Mit dem Schutzgebietsnetz sollen die natürlichen Lebensräume des Anhangs I und die Arten des Anhangs II erhalten werden. Die im Rahmen der Vogelschutzrichtlinie ausgewiesenen Schutzgebiete werden ebenfalls in das Schutzgebietsnetz "Natura 2000" integriert.

In Österreich wurden bisher insgesamt 212 Natura 2000-Gebiete vorgeschlagen (161 Gebiete nach der FFH-Richtlinie ausgewiesen, 99 Gebiete nach der Vogelschutzrichtlinie, Doppelnennungen sind möglich!). Die Gebiete umfassen 16,6% der Bundesfläche. Der Prozess der Gebietsauswahl ist noch nicht abgeschlossen.

Quelle: http://www.umweltbundesamt.at/umwelt/naturschutz/naturrecht/
eu_richtlinien/ffh_richtlinie

Am 11.01.2007 von Diethelm Schneider verfasst.